34. Bayerischer Heimattag in Schweinfurt

Anlässlich der Festveranstaltung am Sonntag, dem 13. Mai 2007, im Rathaus der Stadt Schweinfurt hielt Prof. Dr. Manfred Treml, der Vorsitzende des Verbands Bayerischer Geschichtsvereine, den folgenden Festvortrag:

"Industrie und Kultur - ein bebilderter Blick in Bayerns Kulturgeschichte"

Die Titelbilder des Einladungsprospekts stiften vielleicht schon erste Verwirrung:

Schaut da ein biedermeierlicher Betrachter, ein skurriler Gelehrter vielleicht, mit erstauntem Blick auf eine glatte, funktionale Räderwelt? Treffen hier versponnene Liebhaberei und kalte Rationalität aufeinander, unvermittelt, ohne Brücken, ohne Verstehen?

Ich hoffe, Sie spüren die provokative Ironie der Bilder und meiner Frage. Die dort ausgedrückte Antithese löst sich nämlich schon auf, wenn wir statt der arrangierten Ausschnitte das jeweilige Ganze zeigen:

Ein Kugellager aus Schweinfurter Fabrikation in durchaus ästhetischer Darbietung  und Spitzwegs „Kakteenfreund“, der sich dem geliebten Gewächs voll Empathie und Bewunderung zuwendet.

Sind dies die Bilder, die wir uns vom Verhältnis zwischen Industrie und Kultur machen?

Mein kleines Eingangsbeispiel hat übrigens sowohl für die Bedeutung der Bilder als auch für ihre Manipulierbarkeit einen sprechenden Beleg geliefert. Von den Bildern, die wir voneinander haben, hängt in hohem Maße ab das wechselseitige Verstehen oder Missverstehen ab.  

Die These von der "Macht der Bilder" ist daher keine kulturkritische Floskel. Bilder beeinflussen unser Denken und Handeln, nicht nur die materialen, die gegenständlich vorhandenen, sondern auch die mentalen, die in unserem Kopf gespeicherten.

Die beiden überlieferten Bildzeugnisse, die ich Ihnen nun zeigen werde, sind wie viele andere eigenständige Quellen von hohem Erkenntniswert, Zeichensysteme mit einer eigenen Bildsprache, eigenen Codes und spezifischer Wirkung.

Ihre Interpretation folgt dem wissenschaftlichen Paradigma der Neuen Kulturgeschichte, das der Berliner Historiker Wolfgang Hardtwig so umschrieben hat:

„Eine moderne Kulturgeschichte muss wesentlich eine Geschichte der Imagination sein. Imaginationen aber verfestigen sich in Bildern, wenn sie nicht - wie der Begriff schon andeutet – überhaupt verbildlichte Vorstellungen sind.“

Das Schmuckblatt zur Vollendung der 3000sten Lokomotive hat die Krauss-Maffei AG im Jahre 1894 in stattlicher Plakatgröße herstellen lassen, um damit den Lobpreis der Technik zu singen und zugleich die Leistung der eigenen Firma zu feiern.          

Durch einen triumphbogenartigen Rahmen blickt man auf die 3000ste Lokomotive, eine dreifach gekuppelte Güterzuglokomotive mit Tender für die Bayerische Staatsbahn, die vor dem Krauss’schen Werk in München steht.

In den Ecken verweisen zwei Vignetten auf die handwerkliche Tradition und auf die Ingenieurskunst.

Ein Gedicht preist die ruhmvolle Verbindung von Geist und Kraft des Menschen, die Leistungen wie diese Lokomotive hervorbringt.

Das Porträt von Georg Krauss, dem diese Huldigung gilt, überragt, von Putti gehalten, die Komposition.

Ausgezeichnet wird der Geehrte durch seine herausragendste Tat:  die auf der Pariser Weltausstellung von 1867 preisgekrönte Lokomotive, deren Zeichnung drei Engelchen tragen.

In einer allegorische Figurenreihe hält  Nike, die geflügelte Siegesgöttin, Prometheus bei der Hand, um ihm die Fackel zu überreichen, während der drohende Dämon Dampf, ein abstürzender Luzifer, von Menschenkraft in Ketten gelegt und zu einer positiven, nutzbaren Kraft wird.

Im Mittelpunkt des Blattes steht ein euphorisches Gedicht, dessen Metaphorik uns heute eher befremdet oder, was besser wäre, nachdenklich macht.

 „Wo Geist und Kräfte willig sich verbinden/

 Wird manches große Werk vollbracht.

 Es kann die Kraft kein höh’res Wirken finden/

 Als zu verkörpern / was der Geist erdacht.

 Vom Menschengeiste ward auch Sie erfunden /

 Von Menschenkräften ward auch Sie erbaut /

 Sie / deren Hochzeitstag wir heute feiern /

 Die stolze Eisenbraut.

 Ja / Ja! Zur Hochzeit seh’n wir sie bereitet.

 Das Menschenwerk / gepanzert und gestählt /

 Mit der Naturkraft urgewaltigem Wirken

 Wird es an diesem Tag vermählt.

 Umwindet sie mit grünenden Girlanden

 Und Blumenkränze flechtet auch hinein!

 Der Tag / an dem wir sie gerüstet fanden

 Zur Hochzeitsfahrt / ein Festtag soll er sein.

 Und Glück zur Fahrt! Da steht sie - schön geschmücket /

 Zum Fluge durch die weite Welt bereit.

 Bald wird sie ihren stolzen Lauf beginnen /

 Vor ihrer Schnelle schwindet Raum und Zeit.

 Vom ernsten Norden, wo das Meer erstarret

 Zum heit’ren Süden / wo die Sonne flammt /

 Verkündet sie auf ihrem Siegeslaufe

 Den Ruhm des Hauses / welchem sie entstammt.“

Eine Erfolgsgeschichte war mit dem Namen Georg Krauss tatsächlich verbunden.

Der Firmengründer wurde 1826 als Sohn eines Webers in Augsburg geboren, besuchte dort die Polytechnische Schule und trat dann als Schlosser in die Lokomotivfabrik von Joseph Anton von Maffei in München ein. Bevor er sich selbstständig machte, hatte er als Lokomotivführer, Maschinist und Maschinenmeister weitere berufliche Erfahrungen gesammelt. 1866 legte er auf dem Münchner Marsfeld den Grundstein für seine Fabrik.

Schon ein Jahr später erzielte er mit der Preiskrönung einer seiner Lokomotiven auf der Pariser Weltausstellung einen schier unglaublichen Erfolg. Es verwundert nicht, dass Krauss bereits sechs Jahre später in Sendling eine Filialfabrik anlegen und 1880 in Linz an der Donau ein weiteres Zweigwerk eröffnen konnte. Im Jahre 1887 wurde die Firma in eine Aktiengesellschaft umgewandelt.

Rege entwickelte sich auch das Exportgeschäft; Produkte der Firma gingen in alle europäischen Länder, aber auch nach Australien, Argentinien, Japan und sogar bis nach Afrika und Asien.

Von den bis 1905 produzierten 5000 Lokomotiven gingen nur etwa 1000 an den bayerischen Staat. Im Jahr des Herstellung der 3000. Lokomotive beschäftigte das Unternehmen 1071 Arbeiter und lag, was die Produktivität anlangte, an fünfter Stelle unter den Lokomotivherstellern.

Krauss hatte also durchaus Anlass, das Produktionsjubiläum feierlich zu begehen und sich dabei der Allegorie als bedeutungssteigernden Mittels zu bedienen.

Trotz allen Respekts vor der Leistung dieses frühen Unternehmertums wird der heutige Betrachter das Fortschrittspathos dieses Schmuckblattes kaum mehr teilen und eine Metaphorik, bei der eine Lokomotive zur Braut stilisiert wird, schwer nachvollziehen können.

Der allegorisch zitierte antike Mythos war in der Tat differenzierter:

Prometheus, der Sohn des Titanen Japetos, stiehlt vom Wagen des Helios oder in einer anderen Variante aus der Schmiede des Hephaistos das Feuer, den göttlichen Funken der Kulturfähigkeit. Aus Rache lässt Zeus als erste Frau Pandora schaffen, die das Übel unter die Menschen bringt. Prometheus aber wird zur Strafe von Hephaistos an einen Felsen geschmiedet, wo ein Adler täglich seine nachts nachwachsende Leber frisst. Von Herakles befreit wird er zum ständigen Förderer der Menschen, zum Lehrer in Künsten und Wissenschaften, in einem Teil der Überlieferung als Vater Deukalions sogar zum Stammvater des Menschengeschlechts.

In Athen wurde er als der Schutzgott der Handwerker verehrt,

meist in enger Verbindung mit Athene und Hephaistos.

Das im Gedicht gepriesene unkomplizierte, weil eindeutige Verhältnis von Geist und Natur, relativiert sich bei Betrachtung des griechischen Verständnisses des Wortes techné, das Kunst, Können, Kenntnis und Wissen bedeutete. Es fand Anwendung sowohl auf theoretische Wissenschaften wie die Geometrie und Astronomie als auch praktische Fertigkeiten wie die Kunst des Schmiedes oder des Bildhauers.

Der Streit um das Verhältnis von Natur und Geist, letztlich auch von Technik und Kultur, durchzieht die gesamte antike Philosophie. Waren beide gleichberechtigt – so Platon – oder bildete sich die Kunst stets nach dem Muster der Natur, wie Aristoteles annahm?

Dominierte also der schöpferische Geist des Menschen über die ihm verfügbare Natur oder war er als Teil derselben von ihr abhängig und mehr auf Mimesis, auf Nachahmung, angewiesen als auf geistige Großtaten – eine Frage, an der wir uns bis heute abarbeiten?

„Ungeheuer ist viel, und nichts

ungeheurer als der Mensch.

Der nämlich über das graue Meer

im stürmenden Süd fährt er dahin,

andringend unter rings

umrauschenden Wogen. Die Erde auch,

der Göttlichen höchste, die nimmer vergeht

und nimmer ermüdet, schöpfet er aus

und wühlt, die Pflugschar pressend, Jahr

um Jahr mit Rössern und Mäulern.“

Als Herren über die belebte Natur und als Städtegründer besingt das berühmte Chorlied aus Sophokles „Antigone“ den Menschen, nicht ohne auf dessen Sterblichkeit zu verweisen.

Die Schlussstrophe aber spricht unverhohlen die Ambivalenz menschlichen Handelns an:

„So über Verhoffen begabt mit der Klugheit

erfindender Kunst,

geht zum Schlimmen er bald und bald zum

Guten hin.

Ehrt des Landes Gesetze er und der Götter

beschworenes Recht –

Hoch steht dann seine Stadt. Stadtlos ist er,

der verwegen das Schändliche Tut.“             

             

Hier sind in der Tat all die Spannungen und Ambivalenzen in poetischer Verdichtung ausgedrückt, welche die Menschen in zweieinhalbtausend Jahren nicht zu lösen vermochten.

Der Philosoph Hans Jonas beginnt sein epochemachendes Buch „Das Prinzip Verantwortung“, in dem er sich mit dem „entfesselten Prometheus“ und den Verheißungen der modernen Technik befasst, mit diesem antiken Text.

Technik wird für ihn zugleich zur Drohung, die Unterwerfung der Natur zur Gefahr.

„Was der Mensch heute tun kann und dann, in der unwiderstehlichen Ausübung dieses Könnens, weiterhin zu tun gezwungen ist, das hat nicht seinesgleichen in vergangener Erfahrung.“

Sein Hauptziel ist eine „Ethik für die technologische Zivilisation“, seine Hauptklage richtet sich gegen die „Nacktheit eines Nihilismus, in der größte Macht sich mit größter Leere paart, größtes Können mit geringstem Wissen davon, wozu.“

Der von der Fortschrittsidee getriebene Triumphzug der Technik führt schließlich dazu, so Jonas,

“dass im Allgemeinbewusstsein das prometheische Unternehmen als solches von der Rolle des bloßen Mittels (das jede Technik an sich doch ist) in die des Ziels rückt und die ´Eroberung der Natur` als Beruf der Menschheit erscheint: homo faber über homo sapiens (der seinerseits zum Mittel für jenen wird) und äußere Macht als höchstes Gut - ...“

Diese „Utopie permanenter Selbstübersteigerung“, von der unser Bild keineswegs frei ist, taugt als Modell für Technik und Industrie im 21. Jahrhundert nicht mehr.

Dazu bedarf es vor allem auch einer Reflexion der grundlegenden Naturwissenschaften, die sich von ihrer mechanistischen Naturauffassung verabschieden und ihr Objektivitätspostulat relativieren müssen. Dieses „Erwachsenwerden der Wissenschaft“, wie Carl Friedrich von Weizsäcker diesen Prozess genannt hat, würde schließlich auch zu einer anderen Bewertung der Technologiefolgen führen.

Günther Altner hat dabei besonders die Suche nach Wertmaßstäben und eine ethische Radikalisierung angemahnt und als tiefsten Grund dafür die Ehrfurcht vor dem Leben genannt. Auch er nimmt in seinem kritischen Szenario zur „Überlebenskrise in der Gegenwart“ Bezug auf die Antike:

„War Technik im Sinne der Griechen ursprünglich einmal das Hervorbringen und Überführen (=Entbergen) des in der Natur liegenden Wahren in das Schöne der menschlichen Kultur, so besteht nun die Gefahr, dass Natur und Kultur unter dem Diktat der technischen Vernunft auseinanderbrechen und im Strudel des rasenden Bestellens verwahrlosen und untergehen.“ 

Ich breche hier ab und gehe direkt zum zweiten Bild über, das uns von der „Industriekultur“ nun zur „Arbeiterkultur“ führt.

Das gemalte Gedenkblatt aus dem Jahre 1888, das aufgebaut ist in der Art eines Triptychons, zeigt in seinem Mittelteil den Donaufluss und dahinter die Silhouette von Ingolstadt. 

Davor ist eine Vielzahl von Attributen des Handwerks und der Industrie aufgehäuft, etwa rechts eine Dampfmaschine und links ein Destillationsgerät.

Im Mittelpunkt, auf den Werkzeugen der Landarbeit prangt als Symbol des Fleißes ein Bienenkorb, der sich auf vielen Darstellungen der christlichen Arbeiterbewegung findet.

Auf den Seitentafeln links und rechts treten Handwerk und Gesangskunst als Personifikationen auf, die das Zusammenwirken von tätigem Leben und kultureller Aktivität versinnbildlichen.

Deutlich wird, dass der Handwerker das gesellschaftliche Leitbild des Evangelischen Arbeitervereins war, nicht der Industriearbeiter, und dass jeder Arbeitserfolg göttlicher Hilfe bedarf. „Doch der Segen kommt von oben“, ist auf dem aufgerollten Band plakativ zu lesen. 

Ein weiterer frommer Sinnspruch, dem benediktinischen „ora et labora“ nachempfunden, überwölbt das Gemälde: „Bet´ und arbeit – hilft Gott allzeit.“ In der Mitte des Spruchbandes vereinigen sich auf dem Hintergrund des Kreuzes zwei Hände in solidarischer Verschränkung, die von dem Motto „Gott mit uns“ unterstützt werden.

Diesem Motto war der Evangelische Arbeiterverein verpflichtet, der am 11. November 1888 unter dem Dach der evangelischen Pfarrei St. Matthäus gegründet wurde. Die 75 Gründungsmitglieder, Gesellen und Arbeiter, wollten „christliche Sitte und Bildung“ pflegen und damit ein Gegengewicht zur sozialistischen Arbeiterbewegung bilden.

Insbesondere der Eisenbahnbau, später auch Pulver- Geschoß- und Geschützfabriken hatten die Arbeiterschaft in der Landesfestung und Garnisonstadt Ingolstadt anwachsen lassen. Darunter befanden sich auch evangelische Handwerker und Arbeiter, die in der Diaspora Orientierung und Zusammenhalt gegenüber Sozialdemokraten und Katholiken zugleich suchten und sich deshalb in einem konfessionell gebundenen Verein zusammenschlossen.                

Religiöse Bindung und christliches Arbeitsethos geben den kulturellen Rahmen für die Arbeitswelt, Tradition und Kunst sind als Leitfiguren im Menschenbild dieses auf dem politischen und gewerkschaftlichen Feld nicht sehr erfolgreichen Zusammenschlusses deutlich herausgestellt.

Max Webers „protestantische Ethik“ durchweht das gesamte Bild, seine Texte ebenso wie seine Ikonografie.

Die Einbindung der wirtschaftenden Menschen in ethische Bindungen und die Verantwortung auch der Industrie gegenüber einer höheren Instanz hat also durchaus Tradition und ist trotz der Säkularisierungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts nicht obsolet geworden.

Der Philosoph Hermann Lübbe, der übrigens vor sechs Jahren beim Heimattag in Bad Windsheim über die Modernisierung und ihre Folgen für den ländlichen Raum gesprochen hat, weist in einem Band gleichen Namens ausdrücklich darauf hin, dass Modernität und religiöse Kultur durchaus eine Option für die Zukunft sein können.

Die „Moralisierung der Märkte“, wie sie der Soziologe Nico Stehr kürzlich in einer eindrucksvoll vermittelnden Schrift gefordert hat, kann allerdings nur gelingen, wenn ein kulturell vermittelter Wertehorizont als Orientierungsrahmen erhalten bleibt.  

Dabei dürfen Wirtschaft und Industrie nicht den Takt angeben, denn auch sie leben von der „Fähigkeit zur schöpferischen Veränderung“ und der „fortwirkende(n) Kreativität“ (Walter Bühl) des kulturellen Systems, das überkommene Artefakte, Güter und technische Prozesse ebenso umfasst wie Ideen, Bräuche und Werte.

Die kulturellen Spitzenleistungen entstammen übrigens weniger der durch die Globalisierung als zwangsläufig suggerierten Weltzivilisation, sondern immer noch den National - und vor allem den Regionalkulturen.

Der Volkskundler Klaus Guth hat kürzlich in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Heimat und Welt“ unter Bezug auf die Aussage eines Schweizer Rückwanderers geschrieben:

„In dieser anthropologischen Reduktion auf die Liebe als Grund und Antrieb menschlichen Zusammenlebens in der Nähe und in der Ferne sind die Anfänge menschlicher Kultur zu suchen. Liebe, Phantasie und die Zwänge der Natur gestalteten die frühen Lebenswelten der Menschen im Großen wie im Kleinen.“

Wenn man der Kultur diese fundamentale Bedeutung zugesteht und ihre gesellschaftlichen Beitrag als grundlegend einschätzt, kann man ohne weiteres zur Forderung nach einem „Bürgerrecht Kultur“ gelangen, die der frühere Kulturreferent der Stadt Nürnberg Hermann Glaser schon vor Jahrzehnten erhoben hat.

Seine vier Aspekte, die er damals detailliert dargelegt hat, verdienen immer noch Beachtung: Kulturanthropologisch geht es um das Bild vom Menschen, kulturtopografisch um die Verortung in der „Heimat“, kulturökologisch um das Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen, kulturellen und zivilisatorischen Umwelt und kulturökonomisch um ein mittel- oder langfristig monetär sich auswirkendes Wohlbefinden der Gesellschaft.

Ein kritisch-analytischer Blick auf  das gegenwärtige Verhältnis von Industrie und Kultur gibt bei allen positiven Einzelbeispielen, nach denen man in Schweinfurt weiß Gott nicht suchen muss, Anlass zur Sorge, selbst wenn man nicht von einem Scheitern unseres Kulturentwurfs sprechen muss, wie das Carl Amery getan hat.

In seiner geradezu prophetischen Schrift „Die Botschaft des Jahrtausends“ hat er schon vor mehr als zehn Jahren folgende Gründe dafür genannt:

1. unsere sogenannte degenerative Disziplin, 2. die Kluft zwischen Reichen und Armen und

3. die Art zu wirtschaften und das Erwirtschaftete zu verteilen.

Am Beispiel des Autos, der Energieversorgung und der Ernährungsgewohnheiten hat er seine Thesen durchaus überzeugend untermauert. Den „Planeten-Managern“ unserer technologisch dominierten Systeme traut er dabei die Fähigkeit zur Einsicht nicht zu, weil sie - ausschließlich den alten Normen des Industriesystems verpflichtet - nur den bestehenden Zustand zu erhalten und auszubauen bemüht sind.

Der Blick in das Bildungswesen, den Kernbereich kultureller Kompetenz und Verantwortung zumal in einer Wissensgesellschaft, gibt Anlass zur Sorge.

Wissenschaft, die sich freiwillig dem Effizienzdruck wirtschaftlicher Interessen unterwirft und damit in finanzielle Abhängigkeit von ihren Nutznießern gerät, wird ihrem Kernanspruch, unabhängig von Vorgaben und partiellen Interessen nach der Wahrheit zu streben, nicht mehr gerecht.

Und die Abhängigkeiten gehen weiter und provozieren mehr als eine kritische Frage.

Woher, so fragt man sich, nehmen Banker, Manager, Industrielle, Unternehmer, die Kompetenz, um in den Boards von Hochschulen über Zielsetzungen von Forschung und Lehre zu bestimmen und Qualitätsurteile über Fächer zu fällen, in denen sie über keinerlei Sachkunde verfügen?

Bis in die Sprache hinein reicht inzwischen dieser Dominanzanspruch: Ein unsäglicher betriebswirtschaftlicher Slang – ich nenne nur mein Lieblingswort „Alleinstellungsmerkmal“

beherrscht inzwischen auch die Diskussionen an der einzigen katholischen Hochschule Deutschlands, meiner geschätzten Universität in Eichstätt.

Der „Profilbildung“ – um ein anderes Schlagwort zu nennen - gilt alles Augenmerk, dem Bestreben, zum „Marktführer“ zu werden.

„Was nicht zu diesem Profil passt, soll gestutzt oder abgestoßen werden, wie ein Wirtschaftsunternehmen, das sich von Produktionsbereichen trennt, in denen die Rendite nicht mehr die Erwartungen der Aktionäre erfüllt“ (Dieter Langewiesche FAZ 23.6.2005)

Die Alma Mater wird zum Marktplatz, die Studenten zu Kunden. Unser Bemühen als Hochschullehrer, unser ganzer pädagogischer Eros wird auf die ökonomische Primitivformel des „Do-ut-des“ reduziert.

Nicht weniger fragwürdig erscheint es, wenn Historiker, Philosophen, Sprachwissenschaftler, Pädagogen, Sinologen, Ethnologen etc. einen Gutteil ihrer Zeit mit der Suche nach Mäzenen, der Jagd nach Sponsoren und nicht zuletzt dem Ausfüllen von Antragsformularen verbringen, obwohl ihre meist bescheidenen Forderungen wenig Aussicht auf Erfolg haben, weil ihre Produkte weder marktkonform noch unmittelbar verwertbar sind.

Aber das Zauberwort „Drittmittel“ hat inzwischen die Geister derart verwirrt, dass man fast vermuten möchte, die Kulturstaatsverpflichtung aus der Bayerischen Verfassung sei inzwischen suspendiert. 

Was berechtigt, so frage ich weiter, Bundespolitiker, in einer verfassungsrechtlich höchst fragwürdigen Exzellenzinitiative Gelder zu verteilen, die einseitig große Universitäten und naturwissenschaftliche Fächer bevorzugen?

Warum ertragen wir überhaupt einen Bologna-Prozess, der erkennbar für den Großteil der geisteswissenschaftlichen Fächer nicht geeignet ist und in Wahrheit nur aus fiskalischen und statistischen Motiven so stramm durchgezogen wird?

Die Bachelorisierung unserer Hochschulen trifft vor allem die Geisteswissenschaften schwer und wird dann auch wieder auf  Wirtschaft und Industrie zurückschlagen, wenn dieses akademische Proletariat auf Stellensuche geht, wenn vor allem die von Schmalspurlehrern ausgebildeten jungen Leute bei den Betrieben anklopfen.

Ich fürchte nur, dass dann wieder, wie seit Jahrzehnten, das beliebte Spiel der Schuldzuweisung beginnt: zuerst die Lehrer, dann das Schulsystem, zuletzt die Eltern, nie aber die klugen Ratgeber aus Wirtschaft und Industrie, die im Unterschied zu den Lehrern keinen pädagogischen und fachlichen Kompetenznachweis benötigen.

Bei meinem zweijährigen Kampf um die Erhaltung des Geschichtsunterrichts am Gymnasium habe ich manches interessante Argument über die Aufgaben der Schule gehört. Besonders aufschlussreich war ein Schreiben des Verbandes bayerischer Wirtschaftsphilologen an den Bayerischen Ministerpräsidenten, in dem es heißt:

„Die Erfahrung aus der gesellschaftlichen Realität lehrt, dass Wettbewerb am ehesten Qualität und Fortschritt gewährleisten kann. Dies gilt nicht nur für Politik und Wirtschaft, sondern auch für die Fächerkulturen in der Schule.“

Von dem eigenartigen Kulturbegriff einmal abgesehen, der hier Verwendung findet, erstaunt die schlichte Argumentation, die an die Stelle bildungstheoretischer Reflexion und bildungspolitischer Entscheidungen primitiven Konkurrenzmodellen das Wort redet.

Schulen aber, die nicht mehr vorrangig die Persönlichkeitsentwicklung der ihnen anvertrauten jungen Menschen im Auge haben und statt umfassender Bildung Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse von Industrie und Wirtschaft als Hauptziel ansehen, werden ihrer gesellschaftlichen Aufgabe nicht gerecht.

Einer derartigen Verkürzung des Bildungsbegriffes gilt es Paroli zu bieten, weil sie zur Auflösung des kulturellen Gesamtsystems führen würde und damit der Gesellschaft ihrer Kreativität, ihres Erfindungsreichtums, ihres Phantasiepotentials berauben würde.

Die Species „homo sapiens“ kann nicht nur als „homo faber“ überleben, sie muss immer auch „homo ludens“, schöpferischer, fantasiebegabter, musischer und künstlerischer Mensch bleiben, wie der Kulturhistoriker Jan Huizinga in einem großartigen Buch gezeigt hat.

Deshalb sind auch die Akteure im kulturellen System mehr als bloße Bittsteller, Bildende Kunst, Musik, Wissenschaft, Theater, Museen, auch unsere Vereine und Verbände, alle diese Kultureinrichtungen, deren gesellschaftlicher Nutzen sich nicht in Bilanzen und nur begrenzt in Statistiken erfassen lässt, aber dennoch real erfahrbar ist, sind unverzichtbarer Bestandteil einer entfalteten und zukunftsfähigen Bürgergesellschaft.

Industrie ohne Kultur hat weder Zukunft noch ist sie gesellschaftlich akzeptabel

– manche aktuelle Reinigungsprozesse in der Großindustrie lassen durchaus hoffen, dass diese Erkenntnis sich auch auf den obersten Manageretagen allmählich herumspricht –

ein konfliktreiches Gegeneinander ist ebenso wenig sinnvoll wie unbegründete Überlegenheitsgefühle.

Beide Systeme bedürfen einander wechselseitig und sind nur erfolgreich, wenn sie dieses Zusammenwirken offen und redlich betreiben.

An Beispielen dafür fehlt es keineswegs, gerade auch im Bereich des Mäzenatentums oder bei den unmittelbaren Berührungspunkten wie Industriedenkmälern oder Industriemuseen.

Die Geschichte des Deutschen Museums etwa mit seinem spiritus rector und Gründer Oskar von Miller und den wegweisenden reformpädagogischen Aktivitäten des Münchner Stadtschulrats Georg Kerschensteiner bietet geradezu ein Lehrstück für die erfolgreiche Kooperation zwischen Industrie und Kultur, die im wesentlichen auf einem gemeinsamen, durchaus fortschrittlichen Bildungsanspruch basierte.

Bayerns Weg hat von der „geminderten Industrialisierung“ des

19. Jahrhunderts nach 1945 zum heutigen Spitzenplatz in der Bundesrepublik geführt, ohne dass die dritte industrielle Revolution, die rasante Digitalisierung vor allem der Kommunikationstechnik,

unser Land völlig umgekrempelt und den Menschen die Liebe zur Heimat genommen hätte.

Dabei spielt der Blick zurück eine nicht unerhebliche Rolle.

Der renommierte Stadtplaner Karl Ganser, einer der Referenten des gestrigen Vormittags, hat kürzlich in einem Gespräch bei BR alpha darauf hingewiesen, als er sagte:

„Wir sollten vor allem endlich erkennen, welch großen historischen Schatz wir mit uns herumtragen und wie pfleglich wir mit dem eigentlich umgehen müssten.“  

In Uwe Dicks Gedichtband „Theriak“ findet sich folgender Text:   

„Erinnerungen steigen auf“:

„Noch lebe ich, noch hab ich Bilder.

Die abendschnelle Fledermaus

lenkt mich von einer Träne ab.

Erinnerungen steigen auf: ...“

In dichten lyrischen Bildern lässt er uns dann dieses intensive Naturerleben mitempfinden, um sich dann anklagend einer Gegenwelt zuzuwenden, die blind ist für dieses Wissen und Fühlen:

„Das alles haben sie vergessen.

Und kauen doch mit müden Mündern

Hufeisen, Witwenzöpfe, Sonnenräder,

Kerbhölzer, mehr als gut gesalzen

Und Arme, zum Gebet gekreuzt.

Doch mümmeln sie nur Mehl.

Sie schmecken nicht den Geist der Dinge,

der sie allein aus ihrem bilderlosen Dasein

ins Leben führen könnte.

Beim dreigehörnten Stier: Ihr langweilt mich!

Aus euren Augen glotzen einzig Münzen.

Fürs Leben seid ihr blind, ihr

wohlgenährten Leichen: Es lebt, wer sieht.

Ein Mensch ist so viel wert,

wie seine Augen sehen.

Auf den Blick zurück kommt es offensichtlich ebenso an wie auf unsere Fähigkeit zum Sehen und nicht zuletzt auf die Bilder in unseren Köpfen.

Wir sollten gemeinsam alles unternehmen, um dieses lyrische Schreckensszenario eines aus verzweifeltem Zorn aufschreienden Dichters nicht Wirklichkeit werden zu lassen.

Prof. Dr. Manfred Treml